Stabilität von Werkzeugmaschinen
Strukturdynamische Sensitivität: der neue Maßstab für Stabilität
Konstrukteure und Entwickler der Chiron Group haben eine Analysemethode erarbeitet, die positionsabhängige Veränderungen der direkten dynamischen Nachgiebigkeiten einer Maschine quantifiziert und bewertet. Die funktionierende Simulation ermöglicht noch stabilere Prozesse.
6. Mai 2024
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von Patrick Schreyeck und Peter Wustrow
Jeder Zerspaner erwartet vom Werkzeugmaschinenhersteller seiner Wahl stabile Maschineneigenschaften: thermisch, statisch und dynamisch. Folgerichtig werden Bearbeitungszentren auf das optimale Zusammenspiel dieser drei Faktoren gestaltet und weiterentwickelt. Für Präzision und Performance in der täglichen Praxis ist die Stabilität der Maschine die Basis schlechthin.
Dies im Fokus, haben Konstrukteure und Entwickler der Chiron Group eine Analysemethode entwickelt, die positionsabhängige Veränderungen der direkten dynamischen Nachgiebigkeiten einer Maschine quantifiziert und bewertet. Das Ziel: die Aussagekraft von Simulationen in der Konzeption von Neu- und Weiterentwicklungen einer Maschine steigern und messbar validieren. Der Weg: mit positionsgenau gerechneten Werten im gesamten Arbeitsraum ein exaktes Bild der strukturdynamischen Sensitivität einer Maschinenstruktur zeichnen. Das Ergebnis: es funktioniert.
Um was genau geht es bei der strukturdynamischen Sensitivität?
Ob als Fahrständer- oder in Portalbauweise konstruiert, jede Maschine beeinflusst durch ihre stabilitätsspezifischen Leistungsmerkmale – thermisch, statisch, dynamisch – die Gestaltung des Zerspanungsprozesses und die Qualität der gefertigten Werkstücke. Ein besonders wichtiger Faktor hinsichtliche eines optimalen Zusammenspiels von Maschine und Zerspanungsprozess ist die dynamische Nachgiebigkeit der Maschinenstruktur.
Dynamische Nachgiebigkeit ist eine auf die Kraft bezogene Verformung aller beteiligten Komponenten wie etwa Spindel, Schlitten, Kreuzteil, Querträger et cetera und sie ist eine frequenzabhängige Größe. Wird an einer Position 1 der Maschinenstruktur eine Kraft eingeleitet, regt das die Maschine gleichzeitig zum Schwingen in verschiedenen Frequenzen an. Werden dann die auftretenden Schwingungen an einer Position 2 der Maschinenstruktur gemessen und auf die an Position 1 eingeleitete Kraft bezogen, definiert sich ein Nachgiebigkeitsfrequenzgang als komplexer Verstärkungsfaktor für diesen Übertragungsweg. Kurz: Jede Bewegungsbahn in X, Y und Z verursacht positionsabhängig direkte Nachgiebigkeitsfrequenzgänge.
Wie nachgiebig ist eine Struktur an welcher Position?
Anders als die statische Steifigkeit, die einen fixen Wert für jede Position definiert, ist bei der direkten dynamischen Nachgiebigkeit für jede Position ein frequenzabhängiger Verlauf festzustellen. Was dabei die Herausforderung ist, erklärt Patrick Schreyeck, seit 2016 bei der Chiron Group im F&E-Team, Ideengeber und Leiter des Projekts, wie folgt: “Auf die Vorhersage der statischen Steifigkeit, sprich die rein mechanischen Einflüsse, können wir uns mit den heute zur Verfügung stehenden FEM (Finite-Elemente-Methode) und Rechenverfahren mit hoher Genauigkeit verlassen. Thermische Eigenschaften sind leider sehr komplex und noch weniger simulierbar als das rein mechanische strukturdynamische Verhalten. Was die dynamische Nachgiebigkeit einer Maschinenstruktur betrifft, haben wir es ebenfalls mit komplexen Wechselwirkungen zu tun, die sich letzten Endes in Schwingungen manifestieren. Je nachdem, welche Masse wie schnell und auf welcher Bahn beschleunigt und gedämpft wird, wirken unterschiedliche Kräfte auf die Maschine ein, die wiederum unterschiedlich darauf antwortet. Die fixen Werte der statischen Steifigkeit pro Position können einfach miteinander verglichen werden. Wie aber können wir frequenzabhängige Verläufe pro Position aussagekräftig gegenüberstellen und bewerten? Unser Ziel ist es, genau diese veränderlichen dynamischen Antworten der Maschine bis zur Systemgrenze Spindelnase zu kennen, sprich zu messen und bewerten zu können.“ Die Messmethode, die das Team um Schreyeck entworfen hat, um das Ziel zu erreichen, spielt sich in drei Schritten ab.
Meßmethode für ein neues Maß der Maschinenstabilität
Zunächst wird der Arbeitsraum der Werkzeugmaschine in 27 Messpunkte diskretisiert (Zerlegung räumlicher Kontinua in kleine Abschnitte beziehungsweise einzelne Punkte). An diesen Messpunkten werden dann mittels Impulshammer und triaxialem Beschleunigungssensor die direkten Nachgiebigkeitsfrequenzgänge in den drei translatorischen Maschinenrichtungen X, Y und Z ermittelt.
Um jetzt die Positionsabhängigkeiten der direkten Nachgiebigkeitsfrequenzgänge den translatorischen Bewegungsrichtungen X, Y und Z zuzuordnen, wird der Arbeitsraum entlang der 27 Messpunkte in geradlinige Bewegungsbahnen gegliedert (Grafik 1). Entlang jeder Bewegungsbahn kann jetzt die Differenzfläche von maximaler sowie minimaler direkter dynamischer Nachgiebigkeitsamplitude im betrachteten Frequenzbereich von jeweils drei Messpunkten je Bahn und Achse gebildet werden (Grafik 2). Diese Differenzfläche ist ein absolutes Maß der Veränderung der jeweiligen direkten dynamischen Nachgiebigkeit pro Bewegungsrichtung und zeigt die strukturellen Antworten der Maschine, nämlich die Änderungen der Amplitude und der Frequenzlage von Eigenfrequenzen entlang jeder Bewegungsbahn.
Um die absolute strukturdynamische Veränderung auch mit anderen Maschinenstrukturen vergleichen zu können, werden die jeweiligen Differenzflächen auf die Länge der zugehörigen geradlinigen Bewegungsbahn sprich des gemessenen Verfahrwegs in X, Y und Z bezogen. Über das Verhältnis der gemessenen und berechneten Differenzfläche A zum Verfahrweg in X, Y und Z definieren wir die spezifische (individuelle) strukturdynamische Sensitivität einer Maschine.
Strukturdynamische Sensitivität: das neue Maß für exakte Vorhersagen
Die gewonnene Erkenntnis beim Messen der strukturdynamischen Sensitivität auf einem Chiron-Doppelspindel-BAZ ‘DZ 22‘ ist diese: Je größer die Veränderungen der Amplitude und der Frequenzlage einer Eigenfrequenz in Abhängigkeit der Bewegungsrichtung sind, desto größer ist die Differenzfläche. Kurz gesagt: Beim Schwingverhalten verändert sich was. Der arithmetische Mittelwert der absoluten strukturdynamischen Veränderungen und der strukturdynamischen Sensitivitäten pro direkter dynamischer Nachgiebigkeit und Bewegungsrichtung repräsentiert das absolute Änderungsmaß und die Sensitivität der direkten dynamischen Nachgiebigkeiten stellvertretend für die gesamte Bewegungsrichtung.
Das Ergebnis ist: Das Schwingungsverhalten einer Maschine hat jetzt ein Maß. Im Beispiel für die Verfahrwege in Z auf der Bewegungsbahn Lz1 mit den Messpunkten P1, P10 und P19 (Grafik 3) ist gut zu erkennen, dass die Veränderungen der dynamischen Nachgiebigkeiten Gxx und Gyy bei Variation der Z-Position am größten sind, sprich sensibler auf eine Änderung der Z-Position reagieren.
Und was fangen Konstrukteure, Entwickler und schließlich die Anwender jetzt mit diesen Erkenntnissen und Daten an? Patrick Schreyeck bringt es so auf den Punkt: „Uns ist es gelungen, eine für die Stabilität der Maschine – und in der Konsequenz auch für den Fertigungsprozess – so überaus wichtige Maschineneigenschaft wie die veränderliche dynamische Nachgiebigkeit mit einem Maß darzustellen. Wir können erstens qualitativ die strukturdynamischen Veränderungen einer Maschine bewerten, hier im Beispiel der Einfluss der Z-Bewegung auf die dynamische Nachgiebigkeit in X und Y. Wir können zweitens quantitativ mit den gebildeten Mittelwerten eine Vergleichbarkeit mit anderen Maschinentypen schaffen. Für unsere F&E-Arbeit bedeutet das exakte Simulationen mit aussagekräftigen Vorhersagen und bei der Messung am Prototypen eine zuverlässige Validierung. Für noch stabilere Schwingungsverhältnisse im gesamten Arbeitsraum der Maschine.“
Basis für noch stabilere Maschinen und Prozesse
Das Team um Schreyeck hat das neue Wissen um das Maß der strukturdynamische Sensitivität einer Maschine bereits praktisch angewendet. Die Aufbaustruktur einer DZ 22, sprich Querträger, Kreuzteil und Spindelstock, wurde in der Masse optimiert. In der Simulation hatte die Massenreduktion keine negativen Einflüsse auf die strukturdynamische Sensitivität, und damit waren auch keine Nachteile für die Gesamtstabilität der Maschine zu erwarten.
Der Beweis wurde in der Praxis mit der Messung an der masseoptimierten Variante der DZ 22 angetreten – das Ergebnis war valide: Neben der effizienten Massenoptimierung blieb die strukturdynamische Sensitivität der Maschine stabil. Dieses neue Maß liefert wertvollen Informationen zum Gesamtthema ‘Stabilität einer Werkzeugmaschine‘ und wird der Chiron Group bei Neu- und Weiterentwicklungen von großem Nutzen sein. Auch für die Anwender, davon sind Schreyeck und sein Team überzeugt, wird das positive Effekte haben: Nämlich mit nachweislich stabilen Schwingungsverhältnissen im gesamten Arbeitsraum der Maschine zu fertigen und auf dieser Basis die Fertigungsprozesse in puncto Präzision, Produktivität und Prozesssicherheit auf ein neues Level zu bringen.
Information & Service
Hersteller
Autoren
Patrick Schreyeck ist Leiter Versuch im F&E-Team bei Chiron in Tuttlingen
info@chiron-group.com
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Peter Wustrow ist Geschäftsführer der Agentur WustrowWerbung in Ostfildern
info@wustrowwerbung.de
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